Ein Grund zum Streiken!

Ich soll euch auf den Frauen*streik einschwören. Das macht angesichts der Rednerliste heute hier in Brugg auch durchaus Sinn. Wer, wenn nicht ich? Obwohl ich es eigentlich total unsinnig finde, dass Frauen immer die Frauenthemen zufallen, sowie es total ungerecht ist, dass der Lohn bei einer Frau in der Regel tiefer ist. Ich würde auch Mal gerne über etwas Anderes sprechen. Aber solange die Gleichstellung nicht vorankommt, muss ja jemand darüber sprechen. Schliesslich ist die Tatsache, dass wir Frauen zur Mehrheit zählen, aber gleichzeitig doch in der Minderheit sind, eine der grössten Ungerechtigkeiten überhaupt.

Trotzdem möchte ich es hier klar und deutlich sagen, dass ich mich je länger je mehr damit schwer tue, immer über Gleichstellung, Lohnungleichheit und all die anderen geschlechterbedingten Ungerechtigkeiten zu sprechen. Immer ich. Immer bin ich die Quotenfrau – nun sogar am 1. Mai in Brugg. Erstens hängt mir dieses Thema und insbesondere die mangelnde positive Entwicklung langsam zum Hals raus. Zweitens werden meine Reden, die immer einen neuen Ansatz suchen, auch nicht besser, wenn sich an der Lage nichts ändert, dass man als Frau diskriminiert wird, nur weil man eine Frau ist. Und drittens bekomme ich mit diesem Thema ein Problem bei manchen männlichen Kollegen. Denn jedes Mal, wenn ich irgendwo über Geschlechterungerechtigkeiten fluche oder irgendwo sage, dass es doch eine Schande ist, dass Frauen auch 2019 in der wohlhabenden und fortschrittlichen Schweiz immer noch weniger verdienen als Männer, kommt im Anschluss an meine Ausführungen ein Mann zu mir und bemängelt, dass ich immer so sehr auf die Frauen fokussiere. Glaubt mir, liebe Männer, das frustriert auch mich. Gewaltig sogar. Mir wäre es viel lieber, es gäbe «nur» gut und schlecht bezahlte Arbeit, was ja schon Unterschied und Ungerechtigkeit genug wäre. Aber es gibt leider beides, schlecht bezahlte Jobs und geschlechterbedingte Lohnunterschiede.

Wir müssen redundant werden!

Und solange das so ist, werde ich darüber sprechen, dagegen kämpfen und mir alle anderen tollen Themen aufsparen. Und Jahr für Jahr wiederholen – auf die Gefahr hin redundant zu werden – was ich nicht mehr länger hinnehmen werde:
— Das fehlende Geld im Portemonnaie. Seit 1981 ist die Lohngleichheit in der Verfassung verankert, seit 1996 im Gesetz, doch nach wie vor beträgt die Lohndiskriminierung (unerklärte Lohnunterschiede bei gleichwertiger Arbeit) der Frauen 8.4 Prozent. Dass dies Auswirkungen auf die Rente hat, ist selbstredend. Und ein Grund zum Streiken!
— Die viele Gratisarbeit. Frauen und Männer arbeiten im Durchschnitt fast gleich viele Stunden pro Woche – mit einem grossen Unterschied: Frauen arbeiten zwei Drittel der Zeit gratis, Männer arbeiten zwei Drittel der Zeit gegen Lohn. Ein Grund zum Streiken!
— Die Untervertretung in den Chefetagen. Ein Grund zum Streiken!
— Die Übervertretung im Tiefstlohnbereich. 63 Prozent der Stellen mit Löhnen unter 4000 Franken sind von Frauen besetzt, bei den Stellen mit Löhnen über 16’000 Franken sind es bloss noch 18 Prozent. Ein Grund zum Streiken!
— Die massive Untervertretung in der Politik. Es ist ein schlechtes Zeichen für unsere Anliegen und für unsere Demokratie, dass es im nationalen Parlament bisher mehr Parlamentarier namens Hans gegeben hat als Frauen insgesamt. Ich will keine Politik, die von Männern für Männer gemacht wird. Ein Grund zum Streiken!
— Zu wenig Krippenplätze. Ein Grund zum Streiken!
— Zuwenig Möglichkeiten für Job-Sharing. Ein Grund zum Streiken!
— Ein Raucherzimmer – statt ein Familienzimmer im Bundeshaus. Ein Grund zum Streiken!

«Es stellt sich also wahrlich nicht die Frage, ob es einen Frauen*streik braucht. Eigentlich hätten wir Frauen jeden Tag gute Gründe zu streiken.»


Denn jeder Tag,
— an welchem wir Frauen weniger verdienen,
— an welchem wir mehr unbezahlte Arbeit übernehmen,
— an welchem wir uns die Karriere verbauen, weil wir auch noch Mütter sind,
— an welchem wir unsere Kinder in Kitas betreuen lassen müssen, die unser gesamtes Zweitverdienerinnenbudget wieder wegfressen und die Fachfrauen, die unsere Kinder betreuen doch miserable Lohn- und Arbeitsbedingungen haben,
— an welchem wir von Politikern erklärt bekommen, dass es keine Quoten braucht,
jeder dieser Tage ist ein ungerechter Tag. Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir wieder zum stärksten Zeichen greifen und zeigen, dass es ohne uns nicht geht. Dass wir streiken. Und zeigen, was wir wollen. Wir wollen nicht mehr als uns zusteht, aber wir wollen das Stück des Kuchens, das uns zusteht: Gleichviel. Gleichstellung. Gleichberechtigung.

Aus denselben Gründen haben Frauen in der Schweiz auch am 14. Juni 1991 gestreikt. Und es hat sich gelohnt. Danach kam der Mutterschaftsurlaub – wenn auch ein minimalistischer -, das Splitting der AHV, die Fristenlösung und Massnahmen gegen häusliche Gewalt. Das ist gut. Aber das ist noch lange keine Gleichstellung. Ich bin meinen Vorkämpferinnen, meinen Müttern und Grossmüttern dankbar. Aber ich bin ihnen auch verpflichtet. Verpflichtet weiterzukämpfen.
— Ich will von meiner Rente leben können. Auch als Frau.
— Ich will, dass Bäuerinnen für ihre Arbeit bezahlt und sozialversichert werden.
— Ich will gute und bedarfsgerechte Betreuungsangebote für meine Kinder und meine Eltern.
— Ich will eine Elternzeit damit auch Väter Verantwortung für die Kinder übernehmen können.
— Ich will, dass meine Tampons und Binden als lebensnotwenige Güter eingestuft werden – was sie für mich sind – und deshalb nur mit einem Mehrwertsteuersatz von 2.5% statt 7.7% besteuert werden.
— Ich will gleich viele Susannes wie Hansen in den Parlamenten.
— Und ich will keine Reden mehr halten müssen, die sich letztlich einzig darum drehen, dass ich eine Frau bin.

Darum werden wir am 14. Juni 2019 streiken. Wir bestreiken die bezahlte Arbeit, die Hausarbeit, die Sorgearbeit, die Freiwilligenarbeit, die Schule, den Konsum. Denn wenn Frau will, steht alles still. Auf dass unsere Arbeit sichtbar werde, unsere Forderungen gehört werden, der öffentliche Raum uns allen gehöre und wir kurzfristig zeigen, was wir langfristig wollen: Den Teil vom Kuchen, der uns zusteht! Geschlechtergerechtigkeit!

Und darum müssen wir alle im Herbst dafür sorgen, dass das Frauenstreikjahr auch ein Frauenwahljahr wird. Denn wenn der Frauenanteil in Bundesbern 48 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts noch immer bei beschämenden 15 Prozent im Ständerat und bei 33 Prozent im Nationalrat rumdümpelt, dann hat die aktuelle Politik versagt. Und dann müssen wir das ändern. Und das werden wir.

Irène Kälin