Bevölkerung vor AKW schützen oder AKW vor der Bevölkerung?

Was passiert, wenn eine Schülerin den 4er Notendurchschnitt Ende Schuljahr nicht erreicht? Sie muss nachsitzen und die Prüfungen wiederholen, im schlimmsten Fall sogar ein ganzes Schuljahr. Es käme niemandem in Sinn, dass die Bildungsdirektion – auf Antrag des Lehrers – plötzlich für alle den Durchschnitt auf 3 herabsetzen würde, um die betroffene Schülerin in die nächste Klasse zu befördern.

Im Atomenergiebereich ist das offenbar ganz anders als in der Schule. Eine krasse Verwässerung der Kernenergieverodnung – „Senkung des Notendurchschnittes“ – soll zurzeit das Atomkraftwerk Beznau – „die ungenügende Schülerin“ – vor dem Aus retten. Obwohl man guten Glaubens davon ausgehen durfte, dass eine Note 4 das Minimum ist.

Im Nachgang der Fukushima-Katastrophe von 2011 ordnete das ENSI – „der Lehrer“ – eine Prüfung aller Atomkraftwerke in Bezug auf die Erdbebensicherheit an. Dabei zeigte sich: Manche Anlageteile des AKW Beznau – „der Schülerin“ – würden versagen und unzulässige Mengen Radioaktivität freisetzen. Weil die Aufsichtsbehörde ENSI die Strahlenschutz­bestimmungen aber falsch anwendet, lässt sie den Weiterbetrieb von Beznau zu, anstatt eine Ausserbetriebnahme und Nachrüstungen – „das Nachsitzen“ – zu verordnen. Man lässt also eine ungenügende Note für eine 4 durchgehen.

«Weil das nicht nur absurd, sondern eine Gefahr für Mensch und Umwelt ist, leiteten AnwohnerInnen von Beznau, unterstützt von mehreren Umweltorganisationen, 2015 rechtliche Schritte ein und verlangten, dass das ENSI seinen damaligen Entscheid als widerrechtlich korrigiert. Was unweigerlich zur sofortigen Abschaltung von Beznau führen würde.»

Das „Beznau-Verfahren“ läuft seit 2015 und ist zurzeit beim Bundesverwaltungsgericht hängig. Obwohl das Gericht noch kein Urteil gefällt hat, ist der Bund – „die Bildungsdirektion“ – nun im Begriff, die gesetzlichen Sicherheitsbestimmungen so abzuschwächen, dass Beznau die Prüfung auch vor Gericht bestehen würde. Entsprechend hat er am 10. Januar eine Teilrevision von drei Verordnungen im Kernenergie-Bereich in die Vernehlmassung geschickt – neu soll der Notendurchschnitt für alle gesenkt werden.

Wir sind empört!

Wir sind empört
— Über dasVorgehen, das elementare Grundsätze des Rechtstaats missachtet.
— Über die Konsequenzen, denn die Anpassungen, wie sie in der Vernehmlassung vorgeschlagen werden, würden eine massive Erhöhung des nuklearen Risikos für die Bevölkerung und Umwelt bedeuten.
— Über den Vertragsbruch, den der Bundesrat und speziell Doris Leuthard begeht, Während dem Abstimmungskampf zur Atomausstiegsinitiative hat sie noch partout versicherte, wir hätten in der Schweiz eine klare Gesetzgebung und eine kompetente nukleare Aufsichtsbehörde, und heute – gut ein Jahr später – will sie hinterhältig die gesetzlichen Bestimmungen zur nuklearen Sicherheit weitgehend abschwächen.

Die Bevölkerung austricksen und erst noch gefährden, damit das uralte AKW Beznau nicht endlich stillgelegt werden muss? Das geht gar nicht. Wir wehren uns vehement gegen die Verwässerung der Sicherheitsbestimmungen für Schweizer AKW und fordern den Bundesrat auf im Namen der Bevölkerung, der Umwelt und der Rechtsstaatlichkeit, auf die geplante Revision zu verzichten.

Irène Kälin