Weniger Anzüge – mehr Gleichstellung!

Zugegeben, manchmal wäre ich wirklich gerne ein Mann. Nicht nur, weil ich dann alleine auf Grund des Geschlechts rund 18% mehr Lohn verdienen würde für dieselbe Arbeit, nein auch deswegen, weil Männer immer Anzüge tragen dürfen und damit immer richtig liegen. Zur Klarstellung: ich finde Anzüge zwar durchaus hie und da chic, im Grunde aber die schrecklichste, unpraktischste und langweiligste Kleidung der Welt. Sie sehen zwar alle gleich aus, diese grauen, dunkelblauen und schwarzen Herren, wenn sich die „classe politique“ trifft, aber sie liegen immer richtig – im Ratssaal wie am Apéro und müssen nie eine Frage dazu beantworten wieso sie immer dasselbe tragen. Sie sind nie underdressed und nie overdressed. Ein Anzug ist nie ein Symbol für emanzipiert oder frigide, für modisch oder altmodisch. Und unter einem Anzugträger kann man in einer Bildlegende nie schreiben „extravagant“, „gewagt“ oder „unvorteilhaft“. Obwohl es durchaus wünschenswert wäre, wenn mehr Anzugträger auch extravagante Kombinationen wagen würden, wenn sie gewagt auch einmal den Anzug weglassen würden und natürlich sehen viele Anzugträger unvorteilhaft aus, nur haben wir uns alle so sehr an dieses Bild gewöhnt und die Masse der Anzugträger ist dermassen gross, dass es kaum noch bemerkt wird, dass der Anzug nicht sitzt, dass der Anzug nicht passt, dass der Anzug unvorteilhaft geschnitten ist. Unter einem Anzug kann man sogar die grössten Modesünden begehen und ein Kurzarmhemd verstecken.

«Ein Anzug kaschiert alles, mitunter sogar die Persönlichkeit, welche den Anzug trägt. Und trotzdem ist der Anzug die perfekte Arbeitskleidung des Politikers. Damit verstösst er nie gegen die Kleidervorschriften in Ratssälen und nach der Fernsehsendung bekommt er keine Mails, die ihn darauf aufmerksam machen, dass seine Kleidung keinen Gefallen gefunden hat.»

Ich aber als Frau werde im Ratssaal gerügt, wenn bei sommerlichen Temperaturen meine Schultern zu sehen sind und wenn ich mit einem Statement im Fernsehen ausgestrahlt werde, dann bekomme ich danach wenig Rückmeldungen zu dem was ich gesagt habe, dafür viele zu dem was ich getragen habe .Wenn ich an einem feministischen Anlass ein kurzes Schwarzes trage, dann finden das manche einen Affront gegenüber den emanzipierten Werten, wenn ich zum Apéro in Jeans erscheine dann bin ich underdressed und wenn ich im Abendkleid zum Apéro fahre, dann bin ich während der gesamten Reise overdressed. Wenn ich gelb trage, dann ist das „extravagant“, wenn ich zuviel Bein zeige, dann ist das „gewagt“ und wenn ich keine Modelmasse haben, dann sieht fast alles was ich trage „unvorteilhaft“ aus.

Ja, es würde sich ökonomisch auszahlen ein Mann zu sein und einen dieser Anzüge zu tragen, die alle uniformieren und gleichmachen. Gleichstellung sieht aber anders aus. Gleichstellung ist Freiheit. Die Freiheit, unabhängig vom Geschlecht, denselben Lohn zu verdienen und unabhängig vom persönlichen Kleidungsstil beurteilt zu werden. Gleichstellung bedeutet weniger Anzüge.

Irène Kälin