1. Mai Rede

Danke liebe Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer

Ihr habt mit Euren 400’000 Überstunden seit der Aufhebung der Eurountergrenze die Unternehmer reicher und den Franken stärker gemacht. Ihr habt mit euren fünf Stunden Mehrarbeit pro Woche die Auswirkungen des Fehlentscheides der Nationalbank abgeschwächt und ihr schaut mit eurer unentgeltlichen Mehrleistung dafür, dass es der Schweiz weiterhin gut geht. Ihr habt mit Eurem Engagement im Service und im Tourismus die Übernachtungszahlen in diesem Winter trotz Frankenstärke erhöht – mit Eurer Arbeitskraft konnten die Hotels wider alle Erwartungen und Klagelieder 6 Prozent mehr Übernachtungen im Februar verbuchen.

Danke liebe Migrantinnen und Migranten

Ihr schaut dafür, dass unsere Spitäler ihre Patientinnen weiterhin betreuen können, dass gebaut werden kann, dass wir keinen unerträglichen Ärztemangel haben obwohl wir seit Jahren zu wenig Ärztinnen ausbilden, dass unsere Büros geputzt werden und unsere Strassen so schweizerisch sauber sind.

Ganz besonders viel zu danken haben die Unternehmer und die Schweizer Wirtschaft den Frauen. Seit Jahren arbeiten sie gleichviel wie die Männer und kassieren dafür 18 Prozent weniger Lohn in der Erwerbsarbeit, von der Freiwilligenarbeit brauchen wir gar nicht zu sprechen, denn die machen wir Frauen ja wie es der Name schon sagt, freiwillig.

Vielleicht sollte ich aufhören mit dieser Liste. Denn jene, die von der unermüdlichen Arbeitskraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer profitieren und sich das Portemonnaie füllen, bedanken sich selten. Weder in guten noch in schlechten Zeiten. Sonst wären die Löhne in den vergangenen Jahren rasant angehoben worden und es hätte nie eine Masseneinwanderungsinitiative gegeben. Jene, die sich ihre Villen mit dem Profit aus den Dumping-Löhnen kaufen und gegen Ausländerinnen und Ausländer hetzen, fordern nun die Solidarität ihrer Angestellten, aber warum haben sie sich nicht solidarisch gezeigt als sie fett Abkassiert haben und ein Teil ihres Gewinns an die Arbeitnehmenden abgegeben? Es wird zynisch – wenn wir nicht endlich den Spiess umkehren.

Beginnen wir doch bei den Frauen

Es ist allen, allen klar, dass wir gleich viel verdienen müssten wie die Männer – und trotzdem passiert nichts, es passiert nichts seit 34 Jahren.

Seit 1981 ist in der Bundesverfassung der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ verankert und seit 1996 ist das Gleichstellungsgesetz in Kraft. Mit der Durchsetzung der Lohngleichheit hapert es jedoch gewaltig! Der 2009 gestartete freiwillige Lohngleichheitsdialog hat an dieser Tatsache nichts geändert und ist abgebrochen worden. Es gibt nur minime Fortschritte und sie erfolgen im Schneckentempo. Wenn das so weitergeht, dann werden auch unsere Enkeltöchter noch weniger verdienen als unsere Enkelsöhne.

Dieses Laisser-faire hat schon heute für die Frauen schlimme Folgen.

«Frauen im privaten Sektor verdienen pro Monat durchschnittlich 1‘800 Franken weniger als Männer. Und im Alter haben die betroffenen Frauen diese Diskriminierung erneut zu bezahlen – mit tieferen Renten.»

Der Bundesrat hat eingesehen, dass es so nicht weitergeht und hat für dieses Jahr eine Gesetzesvorlage versprochen: Unternehmen sollen ihre Löhne auf Lohngleichheit überprüfen und das Ergebnis im Geschäftsbericht veröffentlichen. Doch wir wollen mehr: Es braucht verbindliche Lohnkontrollen und die Möglichkeit zu Sanktionen – damit nicht mehr die Frauen das Risiko und den Druck tragen müssen. Seit der Aufgabe des Euro-Mindestkurses überbieten sich Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft mit einem neoliberalen Wunschprogramm. Der starke Franken macht nicht nur zehntausende von Arbeitnehmenden reich an unbezahlten Überstunden, nein, er dient nun auch als Ausrede, um auf Massnahmen für die Lohngleichheit zu verzichten. Das darf nicht passieren. Die Lohnungleichheit hat nichts mit dem starken Franken zu tun! Gleichstellung ist eine Frage der Gerechtigkeit und nicht der Konjunktur!

Damit die Gleichstellung vorankommt, braucht es gute Arbeitsbedingungen, die es Frauen und Männern ermöglichen, Erwerbsarbeit, Betreuungsaufgaben und andere gesellschaftliche Aufgaben zu vereinbaren.Die Schweiz hat im europäischen Rahmen einmalig lange Arbeitszeiten und schlechte Rahmenbedingungen für Personen mit Betreuungspflichten. Sie vernachlässigt die familienergänzende Kinderbetreuung. Es mangelt an Tagesschulen. Es gibt nur wenig Ferien, keine bezahlte Elternzeit, keine Regelungen für pflegende Angehörige. Im europäischen Vergleich wird in der Schweiz ein hoher Anteil der Betreuungs-und Pflegearbeit unbezahlt in den Haushalten geleistet. Die unbezahlte Arbeit beträgt mehr als die Hälfte des gesamten Arbeitsvolumens. Sie wird zu 62 % von den Frauen geleistet. Die Arbeitsorganisation in vielen Unternehmen und die Karrierewege orientieren sich noch immer mehrheitlich am männlichen Vollzeitarbeiter. Dazu gehört die männlich geprägte Präsenzkultur. Sie verunmöglicht den Männern die Vereinbarkeit von Erwerbs-und Betreuungsarbeit. Frauen dagegen ermöglichen sich die Vereinbarkeit, indem sie Teilzeit arbeiten. Das Problem der zu langen Arbeitszeiten wird damit von den Frauen individuell „gelöst“. Das bezahlen sie mit Schlechterstellung bei der Weiterbildung und damit beim beruflichen Aufstieg, aber auch mit tieferen Einkommen und somit später mit tieferen Renten.

Wir fordern:

1. Lohngleichheit zwischen Mann und Frau. Denn wenn die Frauen endlich gleich viel verdienen wie die Männer, müssen auch die Männer nicht mehr so viel arbeiten.

2. Es braucht mehr bezahlte Urlaube: Mutterschaftsurlaub, Vaterschaftsurlaub und Elternzeit sowie Freistellungen für Personen mit Betreuungsaufgaben müssen ausgebaut werden, sowohl durch Gesamtarbeitsverträge wie auch auf gesetzlicher Ebene.

3. Es braucht flächendeckende, für alle bezahlbare Kinderbetreuung. Jedes Kind hat Anspruch auf einen Platz.

Aber unsere Forderungen – die nicht mehr wollen als dass Frauen und Männer gleich viel wert sind im Beruf, in der Familie und unserer Gesellschaft – werden nicht gehört. Sind wir zu wenig laut. Braucht es wirklich noch mal einen Frauenstreik? Denn ohne uns Frauen
— gibt es kein Hotel mehr, das die sprichwörtliche Schweizer Sauberkeit hat
— gibt es keine Lehrerinnen mehr, die die Schweizer Schüler bilden, das wichtigste Kapital des Landes laut Johann Schneider-Ammann
— gibt es keinen Service in der Beiz mehr
— werden unsere Onkel und Tanten im Pflegeheim nicht mehr betreut
— werden keine Kleider mehr verkauft und keine Haare mehr geschnitten
— gibt es keine Krippen mehr für unsere Kinder
— wird nicht mehr gekocht, gebügelt und geputzt
— ohne uns Frauen steht die halbe Schweiz still

Und ohne all die unbezahlte Mehrarbeit von allen Arbeitnehmenden «Büezerinnen und Büezer» würde die ganze Schweiz still stehen und all diejenigen, welche heute bereits über den starken Franken klagen, hätten wirklich was zu klagen. Aber all jene, die wirklich zu murren hätten, weil sie als Frau weniger verdienen als als Mann, weil sie ihre Freizeit für unbezahlte Überstunden opfern, weil sie für zu wenig Lohn zu viel arbeiten, die machen einfach das, was sie schon immer getan haben: sie «chrampfen» weiter und feiern heute weltweit ihr Fest, das Fest der Arbeit. Der 1. Mai ist der einzige Feiertag, der auf der ganzen Welt, in allen Kulturen, verbreitet ist und heute feiern wir den Tag der Arbeit zum 125. Mal. Auch wenn wir weit davon entfernt sind, dass unsere Ziele erreicht sind, so haben wir in diesen 125 Jahren doch so manche Hürde genommen. 1891 betrug die übliche Arbeitszeit an die 60 Stunden pro Woche, bei Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfall usw. gab es kein Ersatzeinkommen. Wir haben die Sozialversicherungen erkämpft, wir haben die Arbeitszeiten verkürzt, wir haben Ferien durchgedrückt. Das lassen wir uns nicht wieder wegnehmen und wir wollen mehr, mehr Lohn, mehr Lohnschutz, mehr Gleichberechtigung, mehr Anerkennung, mehr Solidarität und wir werden noch einmal 125 Jahre warten, aber wir haben einen langen Atem. Wir sind der Motor dieses Landes, wir sind das Erfolgsmodell Schweiz. Lasst uns feiern.

Irène Kälin