Aussergewöhnlich

Als die Frühjahrssession nach zwei Wochen abgebrochen werden musste, wusste ich nicht so genau, ob ich persönlich erleichtert oder generell beunruhigt sein sollte. Erleichtert, weil ich nach zwei Wochen Session mit langen Tagen und kurzen Nächten jeweils schon ziemlich genug habe vom Rummel in Bern und zu wenig von meinem Sohn zuhause. Beunruhigt, weil ich nicht verstehen konnte und will, wie sich das Parlament selber aus der Verantwortung entlassen konnte in diesen schwierigen Stunden. Aber egal ob beunruhigt oder erleichtert: Aussergewöhnliche Situationen bedürfen aussergewöhnlicher Massnahmen. Und was nach dem Sessionsabbruch kam, war und ist definitiv aussergewöhnlich.

Aussergewöhnlich ist Home-Office in einem kleinen Hexenhäuschen mit nur einem durch eine Schiebetür abgetrennten Zimmer, dem Schlafzimmer meines Sohnes. (Ok, das WC hat auch eine Türe, aber wer will schon eine Telefon- geschweige denn Videokonferenz an diesem Ort machen). Aussergewöhnlich ist, wenn die Menschen beim Einkaufen fliehen, wenn man in dasselbe Regal einbiegt, in dem der Flüchtende bereits das Regel ausräumt.

Aussergewöhnlich ist, dass WC-Papier offenbar so wichtig ist, dass viele Hamsterinnen und Hamster davon nicht genug kriegen können und ich mich langsam verfluche, dass ich nicht auch gehamstert habe, denn die Vorstellung, dass ich binnen Wochenfrist auf Haushaltspapier oder schlimmere Alternativen umstellen muss, ist doch auch sehr aussergewöhnlich.

Aussergewöhnlich ist es auch, dass ich mich schelmisch freue, dass ich endlich wieder einmal eine Sitzung in Bern habe. Ebenso aussergewöhnlich ist es, dass ich auf dem Weg nach Bern das Gefühl nicht loswerde, dass ich der einzige Fahrgast bin im Zug. Aussergewöhnlich auch das Aussteigen in Bern. Da wo ich mich sonst durch Menschenmassen drängen muss, habe ich nun freie Bahn und fühle mich morgens um 9 Uhr wie sonntags nach Mitternacht. Aussergewöhnlich auch, dass auf dem Rückweg ein Bus nur für mich durch den Abend kurvt. Aussergewöhnlich, dass ich statt Netflix nun jeweils gegen 14 Uhr Koch und Co. schaue. Aussergewöhnlich ist auch, dass es nun tagsüber plötzlich ganz viele Kinder hat in meinem kleinen Dorf, die mir ein Teil des Unterhaltungsprogramms für meinen Sohn abnehmen. Aussergewöhnlich toll. Und die Nachbarin, die mir von ihrem frischgebackenen Kuchen vorbeibringt. Aussergewöhnlich lecker. Aussergewöhnlich, dass ich es plötzlich als grosse Freiheit empfinde, dass ich meine Nase noch in die Sonne strecken darf. Aussergewöhnlich beklemmend die Vorstellung, dass viele Menschen in unseren Nachbarländern nicht einmal mehr diese Freiheit haben. Aussergewöhnlich auch, dass man nun auf den Strassen nur noch ein Thema kennt: Corona. Ein Wort, das bis vor kurzem – es kommt mir vor wie eine Ewigkeit – eine Biermarke war, die ich ab und zu ganz gerne getrunken habe.

Aussergewöhnlich, dass ich mich nach Dingen sehne, denen ich in der Zeit vor Corona Normalität zugeschrieben habe: Der Umarmung von Freunden, dem Kaffee in einem Café mit vielen fremden Menschen. Ein überfülltes Restaurant – einst gemieden – entwickelt sich nun zu einer Sehnsucht. Ein voller Zug, in dem man sich lange nach einer Sitzgelegenheit umschauen muss, wird vom Albtraum zum Traum.

Und so hoffe ich wie wir alle, dass wir diese Krise meistern und bald wieder ein Stück Normalität zurückgewinnen. Es bleibt die Hoffnung, dass dieser Tag nicht mehr allzu fern ist und wir dann die normalen Freiheiten unseres Alltags wieder neu schätzen. Denn sie sind aussergewöhnlich wertvoll.

Irène Kälin