Ich bin auf dem Weg in die Ukraine.

Ich wurde eingeladen vom Parlamentspräsidenten der Ukraine. Und ich habe die Einladung angenommen. Wie hätte ich auch anders können. In diesen schrecklichen Zeiten des Krieges ist ein Zeichen der Solidarität und Menschlichkeit vor Ort, das Mindeste was ich tun kann. Denn dieser Krieg betrifft uns alle:

Er richtet sich gegen unsere gemeinsamen Werte.

Er ist ein Angriff auf Frieden, Sicherheit, Demokratie und die Menschenrechte.

Er tritt internationales Völkerrecht nicht nur mit Füssen, sondern räumt es mit Waffengewalt aus dem Weg.

Er ist die Ursache für die mehr als 40000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu uns geflüchtet sind.

Er ist die Ursache für die 5 Millionen Ukrainerinnen auf der Flucht.

Und ja, er ist auch die Ursache dafür, dass Benzin und Diesel momentan teuer sind.

Und dass Autos nicht mehr geliefert werden. Dass Menschen hungern. Dass Menschen sterben. Soldaten, aber auch viele Frauen, Männer Kinder.

Verursacher ist der russische Präsident, der diesen Angriffskrieg gestartet hat und ihn befehligt.

Ich gehe nach Kiew, weil mich die Worte des ukrainischen Parlamentspräsidenten, Stefanchuk in seinem Einladungsschreiben bewegen:

“I am sure that no civilized politician, for whom true human values ​​are not election slogans only, would remain indifferent after witnessing today's Ukraine, and some may even dedicate their lives for fighting such manifestations of aggression around the world.

I am convinced that your visit will be another proof of solidarity with our country and its support in this difficult time of struggle against the aggressor for independence and democratic values.”

Der Entscheid zu gehen, fiel mir also gewissermassen leicht. Als Nationalratspräsidentin erachte ich es als meine Aufgabe, als Pflicht der höchsten Schweizerin, die Solidarität nach Kiew zu tragen, die ich täglich sehe und erlebe. Als Politikerin zu zeigen, dass wir bedingungslos auf der Seite des Völkerrechts stehen und unsere humanitäre Aufgabe wahrnehmen, und mir vor Ort ein Bild zu machen und es zurück in die Heimat zu tragen.

Gerne würde ich sagen, dass mir die Entscheidung auch als Mensch einfach fällt. Weil es doch klar ist, dass mein Herz für meine ukrainischen Schwestern und Brüdern schlägt. So wie mein Herz für alle Menschen schlägt, die Opfer von Krieg, Brutalität und sinnloser Zerstörung geworden sind. Weil ich den Mut und die Kraft bewundere, mit der die Ukrainerinnen und Ukrainer für unsere Werte kämpfen. Mit dem höchsten Einsatz, den wir Menschen haben: mit ihrem Leben.

Aber als Mensch, als junge Frau, die nichts anderes kennt als ein Leben in Frieden und als Mutter eines kleines Kindes, die noch nie in einem Kriegsgebiet war und die bereits bei den Bildern in der Tagesschau ihre Tränen nicht zurückhalten konnte, hätte ich mir diese Reise gerne erspart. Ich will das Elend, das dieser schreckliche Krieg verursacht, eigentlich nicht sehen. Weiss nicht, ob ich es aushalten werde. Darum zu wissen, ist schon schwer genug.

Nein, ich habe keine Angst davor, dass mich die Ukraine bei diesem Besuch zu Propagandazwecken «missbraucht» wie es gewisse Medien suggerieren. Ich habe auch keine Angst um meine Sicherheit. Ich habe Angst, dass es mich als Mensch durchrütteln wird. Und ich glaube, das ist gut so. Denn letztlich steckt hinter jeder Funktion und jedem Titel ein Mensch und genau diese Menschlichkeit brauchen wir doch alle mehr denn je. Denn wenn diese Menschlichkeit siegt, dann wird der Ruf nach Frieden gehört. Dann wird der Friede Realität.

Irène Kälin