1. Mai 2022

Ich halte regelmässig 1. Mai-Reden, aber dieses Jahr ist es einmalig, weil ich eine einmalige Funktion habe. Es müsste also die beste Rede aller Zeiten sein. Denn ich werde nie mehr als höchste Schweizerin eine 1. Mai-Rede halten. Aber weil ich das Motto des 1. Mai «Frieden, Freiheit, Solidarität» gerade in die Ukraine getragen habe und wieder zurück, habe ich mich entschieden keine Rede zu halten, sondern von eben dieser Reise zu erzählen. Einer Reise der Solidarität, einer Reise in ein Land, das für seine und unsere Freiheit kämpfen muss und eine Reise, die mir bei allem Elend Mut gemacht hat, dass die Menschlichkeit siegen kann und damit der Friede.

Nein, in der Ukraine gibt es zur Zeit keinen Frieden. Weil sich ein souveränes Land die Freiheit genommen hat, sich für einen Weg ihres Landes zu entscheiden, einen Weg der Demokratie, der europäischen Gemeinschaft und der europäischen Wertegemeinschaft, müssen sie nun genau diese gemeinsamen Werte mit Waffengewalt gegen den russischen Aggressor verteidigen. Und damit betrifft dieser Krieg uns alle. Nicht nur weil es ein Angriffskrieg auf dem europäischen Kontinent ist. Sondern weil sich dieser Krieg gegen uns alle richtet.

Er ist ein Angriff auf Frieden, Sicherheit, Demokratie und die Menschenrechte.

Er tritt internationales Völkerrecht nicht nur mit Füssen, sondern räumt es mit Waffengewalt aus dem Weg.

Er ist die Ursache für die mehr als 40000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu uns geflüchtet sind. Er ist die Ursache für die 5 Millionen Ukrainerinnen auf der Flucht. Und ja, er ist auch die Ursache dafür, dass Benzin und Diesel momentan teuer sind. Und dass Autos nicht mehr geliefert werden. Dass Menschen hungern. Dass Menschen sterben. Soldaten, aber auch viele Frauen, Männer Kinder.

 

Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer leisten Widerstand

 

Sie verteidigen ihr Land, ihre Freiheit und unsere Werte mit ihrem Leben. So brutal dieser Krieg ist, so viel Leid er verursacht, so beeindruckend ist es gleichzeitig, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer sich diesem Krieg mit Mut, Entschlossenheit und Widerstandswillen in den Weg stellen. Sie sind bereit den höchsten Preis zu zahlen: ihr Leben für die Freiheit zu opfern.

 

Und sie haben die Schweiz um ein Zeichen der Solidarität gebeten. Ein Zeichen vor Ort. Ein Zeichen der Menschlichkeit in diesen unmenschlichen Zeiten. Der ukrainische Parlamentspräsident hat die Schweizer Parlamentspräsidentin eingeladen. Und ich habe die Einladung angenommen. Wie hätte ich auch anders können.

In diesen schrecklichen Zeiten des Krieges ist ein Zeichen der Solidarität und Menschlichkeit vor Ort das Mindeste was wir tun können.

 

Und wir haben uns auf viel Elend und Verzweiflung gefasst gemacht, denn wenn wir die schrecklichen Bilder des Krieges hier in der sicheren und friedlichen Schweiz am Abend auf dem Sofa über den Bildschirm flackern sehen, dann sind wir doch nur schon vom Zuschauen beelendet und verzweifelt. Und klar haben wir die zerstörerische Kraft und die Brutalität des Krieges gesehen oder dessen, was davon in den Vororten von Kyiv noch zu sehen war.

Aber wir haben vor allem viel Mut, Zuversicht und Tapferkeit mitbekommen.

Politikerinnen und Politiker, die sich bereits mit dem Wiederaufbau ihres zerstörten Landes beschäftigen, obwohl sie noch immer im Krieg sind. Und wir haben Dankbarkeit und Menschlichkeit gespürt, dafür, dass wir den Ukrainerinnen und Ukrainern, die zu uns geflüchtet sind unsere Herzen und Häuser geöffnet haben. Dafür, dass wir die Sanktionen gegen Russland mittragen. Dafür, dass wir unsere humanitäre Hilfe vor Ort aufgestockt haben. Und diese Dankbarkeit und Verbundenheit möchte ich heute hier zurückbringen. Denn so wie ich in meiner Funktion unsere Solidarität nach Kyiv getragen habe, so habe ich diese Dankbarkeit mit auf den Rückweg bekommen.

 

Danke!

Ruslan Stefanchuk, mein ukrainischer Kollege, hätte es nicht treffender sagen können: Unsere beiden Parlamente werden vom Volk gewählt. Parlamentspräsidentinnen sind die Vertreter der Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und wenn die Parlamentspräsidentin aus der Schweiz mit dem Parlamentspräsidenten aus der Ukraine spricht, dann sprechen die Schweizerinnen und Schweizer mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Ich habe unser aller Solidarität Ausdruck verliehen. Und ich bringe euch sehr gerne das grosse Dankeschön zurück. Es gilt uns allen.

 

Dieser Krieg konfrontiert Millionen von Frauen, Kindern und Männern mit dem absoluten Horror.

Ich bitte euch alle: stehen wir auf für die Ukraine und damit für unsere gemeinsamen Werte von Frieden, Freiheit und Solidarität.

Irène Kälin